Internet-Urgestein Cory Doctorow schreibt in einem sehr langen, von Wired wieder veröffentlichten Post, wie Plattformen sterben. Er nennt den Vorgang den "Enshittification"-Zyklus.
Zuerst ist die Plattform gut für die User, dann ist sie gut für Geschäftskunden, als nächstes ist sie nur noch gut für sich selbst, und dann stirbt die Plattform. Die Plattform beginnt damit, dass sie einen Mehrwert für die Nutzer darstellt und dadurch Nutzer anlockt.
Amazon
Sein erstes Beispiel dafür ist Amazon. Amazon machte viele Jahre lang Verluste und konnte so Usern Waren besonders günstig mit besonders gutem Service anbieten. Die Suche von Amazon funktionierte obendrein sehr gut, sodass du das beste Produkt zum günstigsten Preis finden konntest. Damit schwang sich Amazon zum Marktführer auf und mit den attraktiven Boni, die es für Prime-Kunden gab, sorgte es für einen "Locked-In-Effekt". User suchen gar nicht erst woanders nach einem Produkt. Über den Marketplace lockte Amazon dann Geschäftskunden an, die von der Menge an Usern profitieren konnten. Anfangs wurden Händler subventioniert und es gab großzügige Tantiemen für Künstler*innen auf Kindle und Audible. Als nächstes zog Amazon die Marketplace-Gebühren an und verlangte zusätzliche Gebühren, um prominent in der Suche aufzutauchen. Das bedeutet aber, dass oben in der Suche nicht mehr Produkte stehen, die am ehesten passen, sondern eine Liste der Produkte, deren Verkäufer am meisten dafür bezahlt haben, bei dieser Suche ganz oben zu stehen. Amazon kann mittlerweile Gewinne an Aktionäre ausschütten.
Als zweites Beispiel bringt Doctorow Facebook. Zuerst war Facebook gut zu dir: Es zeigte dir die Dinge, die die Menschen, die dir etwas bedeuten, zu sagen hatten. Sobald eine kritische Masse von Menschen, die dir wichtig sind, auf Facebook war, wurde es praktisch unmöglich, es zu verlassen. Dann fing Facebook an, Inhalte von Accounts zu zeigen, denen du nicht folgtest. Das waren bevorzugt Unternehmen. Als die Unternehmen dann von Facebook abhängig waren, drosselte das Unternehmen den Datenverkehr. Um größere Reichweiten zu erzielen, musste man zahlen. Als nächstes steigerte Facebook die Anzeigenpreise. Doctorow schreibt nicht zu unrecht: Heute ist Facebook unheilbar verseucht, ein schrecklicher Ort, an dem man sich als Nutzer, Medienunternehmen oder Werbetreibender wohlfühlt.
TikTok
Womit Doctorow bei seinem dritten und aktuellsten Beispiel landet: TikTok TikTok ist vieles, unter anderem "ein kostenloses Adobe Premiere für Teenager, die auf ihren Handys leben". Aber was den Erfolg von Anfang an ausmachte, war die Stärke des Empfehlungssystems. Von Anfang an war TikTok sehr gut darin, seinen Usern Dinge zu empfehlen.
Mit dem Empfehlungs-Algorithmus baute TikTok ein Massenpublikum auf, das größer war, als viele es angesichts seiner Konkurrenten wie YouTube und Instagram für möglich hielten. Jetzt, da TikTok das Publikum hat, konsolidiert es seine Gewinne und versucht, die Medienunternehmen und Kreativen abzuwerben, die immer noch hartnäckig an YouTube und Insta festhalten. Er beruft sich auf Emily Baker-White, nach der es ein "heating tool" gibt, mit dem TikTok-Mitarbeiter Videos von ausgewählten Konten in die Feeds von Millionen von Zuschauern pushen.
Diese Videos werden in die "For You"-Feeds der TikTok-Nutzer eingefügt. Der Effekt ist, dass die Content-Creators die Wahrnehmung haben, dass man auf TikTok "dank des Algorithmus" ein Publikum erreichen kann. TikTok nutzt das "heating tool" anscheinend oft, um Influencer und Marken zu umwerben und sie zu Partnerschaften zu verleiten, indem die Anzahl der Aufrufe ihrer Videos aufgebläht werden.
Und ihr ahnt bestimmt schon, was Doctorows Prognose ist, wie es weiter geht im "Enshittification"-Zyklus.
Sobald Künstler*innen und Unternehmen süchtig sind, beginnt die nächste Phase: TikTok wird das "heating tool" zurücknehmen. TikTok wird den Künstlern nicht nur die "kostenlose" Aufmerksamkeit entziehen, indem es sie im Algorithmus zurückweist, sondern es wird sie aktiv bestrafen, indem es ihre Videos nicht an die Nutzer ausliefert, die sie abonniert haben.
https://www.wired.com/story/tiktok-platforms-cory-doctorow/?utm_source=substack&utm_medium=email